Bildungsreise des dbb sh ins Baltikum
„Wir können uns nicht nur auf den Staat verlassen“
Der dbb schleswig-holstein führt jährlich eine Bildungsreise in wechselnde europäische Städte und Regionen zum Thema „Staat und öffentlicher Dienst in Europa“ durch. In diesem Jahr ging es für eine Woche ins Baltikum. Auf dem Reiseplan standen Lettland und Litauen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus verschiedenen dbb-Fachgewerkschaften konnten viele interessante Eindrücke gewinnen und dabei auch die Lage in Deutschland teilweise neu reflektieren. Dazu haben vor allem Gespräche und Vorträge beigetragen, für die staatliche Institutionen der besuchten Länder sowie Vertreter der dortigen Gewerkschaften und auch die Deutsche Botschaft in Lettland zur Verfügung standen. Hier ein kurzer Reisebericht.
Besonders interessant – und häufig ernüchternd – ist ein Blick auf die soziale Situation in anderen europäischen Ländern. Einige exemplarische Eckpunkte aus Lettland zeigen auf, dass der Sozialstaat in Deutschland verhältnismäßig stark ausgeprägt ist. So müssen 80 Prozent der Rentnerinnen und Rentner in Lettland mit einer Rente von unter 500 Euro auskommen. Der Mindestlohn beträgt 650 Euro, das sind 60 Prozent des Durchschnittseinkommens. Das Gesundheitssystem ist von einer staatlichen Grundversorgung gekennzeichnet, darüberhinausgehende Leistungen müssen ggf. selbst gezahlt werden. Das Kindergeld beträgt für das erste Kind 25 Euro, für das zweite 50 Euro und ab dem dritten 75 Euro.
Es stellt sich die Frage, wie die Menschen über die Runden kommen, zumal in Einkaufsläden und in der Gastronomie das Preisniveau nach unseren Erfahrungen ähnlich ist wie in Deutschland. Die Inflation erreicht sogar deutlich höhere Werte, in Litauen sind es aktuell zum Beispiel 22 Prozent. Staatliche Hilfspakete sind dabei nicht in Sicht. „Die Menschen helfen sich selbst, unterstützen sich auch gegenseitig. Der Staat kann ja nur das ausgeben, was er einnimmt – und das ist einfach zu wenig“, wird uns auf Nachfrage erklärt.
In diesem Zusammenhang darf nicht ausgeblendet werden, dass die Sanktionen gegen Russland deutliche Auswirkungen auf die Wirtschaft haben. In Lettland wurden an erster Stelle erhebliche Einbrüche beim Tourismus genannt, in Litauen wurde das Transportwesen hervorgehoben. Dennoch steht die große Mehrheit der Bevölkerung hinter den Sanktionen gegen Russland. Das ist auch auf die Geschichte zurückzuführen, die zweimal durch einen von Russland verantworteten Souveränitätsverlust der baltischen Länder geprägt ist. Den Menschen dort sei im Übrigen klar gewesen, dass eine neue russische Aggression kommen wird – nur nicht wann und wo genau. Die Mitgliedschaft in der Nato und die daraus resultierende Militärpräsenz vor Ort wird als wichtige Errungenschaft angesehen. Das wird umso klarer, wenn man weiß, dass Litauen über keine eigene Luftwaffe verfügt. Es fehlt einfach an Mitteln im Staatshaushalt. Die Bedeutung internationaler Bündnisse und Solidarität wird unter mehreren Aspekten deutlich.
Die klammen öffentlichen Kassen sind auch im öffentlichen Dienst spürbar. Die Bezahlung ist nicht gut und erschwert die Personalgewinnung. Dennoch ist zum Beispiel die Digitalisierung meist fortschrittlicher als in Deutschland, wie uns im Rathaus von Klaipeda deutlich wird. Viele Dienstleistungen werden bereits vollständig digital angeboten, nahezu alle Mitarbeiter haben entsprechende Schulungen (auch zum europäischen Datenschutzrecht) erhalten und für Senioren werden in den Bibliotheken kostenfreie Kurse angeboten.
Der Fachkräftemangel ist auch im Baltikum ein allgegenwärtiges Problem, betroffen sind unter anderem der Pflege- und IT-Sektor. Da kommt es nicht immer gut an, wenn die ohnehin zu wenigen Fachkräfte auch noch von anderen europäischen Ländern – auch Deutschland – mit höheren Gehältern weggelockt werden. Hinzu kommt: Die Ausbildung von Nachwuchskräften ist im Baltikum insgesamt gesehen auch deshalb problematisch, weil die Qualifizierung in der Regel nur über Berufsschulen und Akademien erfolgt. Die Nachwuchskräfte bekommen selten eine Vergütung. Das duale System der Berufsausbildung, wie wir es in Deutschland kennen, gibt es dort nicht.
Die Gewerkschaftsarbeit ist von ähnlichen Herausforderungen geprägt wie hierzulande – von der Mitgliedergewinnung bis hin zur Durchsetzung von Forderungen. „Die Arbeitgeber sind unsere beste Werbung“ heißt es mit Blick auf die wenig attraktiven Arbeitsbedingungen am Beispiel Litauens. Im Baltikum galt es allerdings zunächst, nach Wiedererlangung der Souveränität freie Gewerkschaften ganz neu zu gründen und zu etablieren. Bemerkenswert ist zum Beispiel auch, dass in Litauen aufgrund des geltenden Ausnahmezustandes ein Streikverbot gilt.
Das Fazit nach der Bildungsreise, die von Hamburg mit dem Flugzeug nach Riga, von dort mit dem Bus nach Klaipeda, und schließlich mit der Fähre zurück nach Kiel führte: wir haben unter der organisatorischen Verantwortung von Susanne Schulz aus der dbb Landesgeschäftsstelle tolle Länder und tolle Menschen kennengelernt sowie viele interessante Informationen erhalten, die uns in die Lage versetzen, vieles besser einzuordnen und nachvollziehen zu können. Der Austausch mit anderen Ländern hat eine hohe Bedeutung und sollte auf jeden Fall fortgesetzt werden.
Unser Dank gilt den Institutionen und ihren Repräsentanten, die keine Mühe gescheut haben, die Bildungsreise zu einem Erfolg zu machen: die Europäische Bewegung in Lettland mit Andris Gobins, dem Lettischen Parlament mit Ramona Petravica, der Deutschen Botschaft in Lettland mit David Bartels, der Delegation des lettischen Gewerkschaftsbundes LBAS mit Andrejs Jirgensons, Vorsitzender LVIPUFDA an der Spitze, der Gemeindeverwaltung Klaipeda sowie dem dortigen Honorarkonsul Dr. Arunas Baublys, dem litauischen Gewerkschaftsverband RJPS mit Arvydas Dambrauskas sowie unserem ständigen Begleiter Maik, der uns viel erklärt und unter anderem zusätzlich die Kurische Nehrung gezeigt hat. Nicht zuletzt bedanken wir uns bei der Europaabteilung des dbb mit Christian Moos und bei der europäischen Dachorganisation des dbb, der CESI mit Hendrik Meerkamp, über die viele Kontakte und Begegnungen möglich wurden.